Die Uhr läuft - ein Team entwickelt sich

Erschienen in NWB "Heilberufe-Beratung direkt digital"

15.04.2015 Fachartikel

In erfolgreichen Unternehmen, in gut funktionierenden Praxen, läuft es so präzise wie in einem Schweizer Uhrwerk. Mit den passenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommt auch der richtige Schwung. Jede einzelne Handlung greift in die andere. Alle arbeiten perfekt aufeinander abgestimmt. Reibungen und Spannungen gibt es nicht… Wer jetzt schmunzelt, weiß, die Realität sieht oft anders aus. Aber geben tut es sie, die gepriesenen „High-Performance“-Teams.
Aber wie werden einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eigentlich zu einem Team? Wie funktioniert das und warum ist das eigentlich eine Führungsaufgabe?

Teamentwicklungsuhr
Bruce W. Tuckmann (* 1938), ein US-amerikanischer Psychologe, entwickelte 1965 die „Teamentwicklungsuhr“. Diese beschreibt - stark vereinfacht – einen Prozess, der in der jeder Art von Gruppe stattfindet. Tuckmanns Modell beinhaltet vier Phasen: Forming, Storming, Norming und Performing. 1977 wurde das Modell um eine weitere Phase ergänzt, die den Ablöseprozess für auf begrenzte Zeit zusammengesetzte Teams beschreibt. Die „Teamentwicklungsuhr“ gilt bis heute als wichtige Basis für das Verstehen und Steuern von Teamprozessen.
 
Phase 1: Forming
Die Phase Forming wird häufig auch als Einstiegs- und Findungsphase oder Test- und Schnupperphase bezeichnet. Die Gruppenmitglieder entdecken, prüfen, testen und bewerten. Man lernt einander und die Situation, in der man sich befindet, kennen. Jeder ist bemüht, einen möglichst guten Eindruck zu machen. Persönliches wird nur zurückhaltend preisgegeben, denn niemand möchte sich angreifbar machen. In dieser ersten Phase des Forming ist die Atmosphäre in der Gruppe gekennzeichnet durch sehr höfliches, aber distanziertes Verhalten.
Ein weiteres Merkmal in dieser Entwicklungsstufe ist die des Testens. Der Einzelne testet, welche Verhaltensweisen von der Gruppe akzeptiert werden. Aktionen und Reaktionen werden sehr aufmerksam verfolgt und ausgewertet. Es wird stark nach Anerkennung gesucht. In dieser Entwicklungsstufe konstituiert sich die Gruppe. Die Gruppenmitglieder loten ihre Rolle und ihren Status innerhalb der Gruppe aus.
Forming gilt dann als abgeschlossen, wenn sich unter den Teammitgliedern persönliche Nähe und Vertrautheit eingestellt hat. Dann herrscht innerhalb der Gruppe eine breite Zustimmung in Bezug auf Aufgaben und Ziele. Erste Verabredungen über Normen, Standards und Methoden sind getroffen worden. Die Gruppe nimmt ihre Aufgaben und Ziele ins Visier. Sie geht erste Team-Schritte.

Tipps für Praxisinhaber
Auch Sie sind Teil der Gruppe. Achten Sie darauf, dass Sie die Praxismaßstäbe deutlich kommunizieren und gemeinsame Werte und Ziele definieren. Klären Sie Verantwortlichkeiten bei Aufgaben. Helfen Sie Ihrem Team dabei, erfolgreich zu sein und stellen Sie deshalb Aufgaben, die von der Gruppe leicht zu bewältigen sind. Betonen Sie Gemeinsamkeiten. Fördern Sie Teamgeist!

Phase 2: Storming
Die Phase Storming wird auch als Auseinandersetzungs- oder Streitphase, Konflikt- oder Nahkampfphase bezeichnet. In dieser Phase treffen die unterschiedlichen Interessen, Denk- und Handlungsweisen der einzelnen Gruppenmitglieder aufeinander. Meinungen polarisieren sich und führen in die Konfrontation. Der Einzelne nimmt verstärkt Trennendes wahr. Innerhalb des Teams bilden sich permanent neue Koalitionen und die Situation ist gekennzeichnet von Konflikten.
Im Storming wird in der Gruppe um Positionen gerungen. Aufgaben und formelle Kontrollen werden vermehrt abgelehnt. Manchmal wird sogar ganz deutlich gegen die Leitung opponiert.
Diese Entwicklungsstufe ist die kritischste aller Phasen. Die Atmosphäre wird beherrscht von interpersonellen Spannungen. Fragen nach Macht und Status des Einzelnen stehen im Vordergrund. Das effektive, zielorientierte Erreichen gemeinsamer Ziele ist in den Hintergrund gerückt. Das Team befindet sich mit seiner Arbeitsleistung am Tiefpunkt.
Diese Entwicklungsstufe gilt dann als erfolgreich abgeschlossen, wenn das Team zu einer transparenten Rollenverteilung mit klaren Kompetenzen gefunden hat. Interpersonelle Konflikte sind bereinigt bzw. abgebaut. Kontroverse Standpunkte lassen sich im Sinne einer kooperativ geprägten Lösungssuche offen klären. Gemeinsam geltende Werte als Basis für die Zusammenarbeit sind ausgelotet. Die Kompetenzen untereinander werden nicht mehr infrage gestellt.

Tipps für Praxisinhaber:
Nur nicht nervös werden! Die Uhr läuft und ein Team entwickelt sich. Aber: Passen Sie auf, Sie sind der Chef. Wenn nötig, weisen Sie freundlich und bestimmt darauf hin. Kommunizieren Sie immer wieder klar und eindeutig die Ziele und Aufgaben des Teams, aber lassen Sie die Suche nach den Lösungen unbedingt im Team. Lenken Sie die Aufmerksamkeit auf sachliche Fragestellungen. Sprechen Sie Mut zu und unterstützen Sie Ihr Team beim Entwickeln effizienter Arbeitsprozesse und konstruktivem Austausch untereinander.

Phase 3: Norming
Die Phase Norming wird häufig auch als Regelungs- und Übereinkommensphase oder Organisations- oder Kontraktphase bezeichnet.
In dieser Entwicklungsstufe lässt der Widerstand gegenüber Aufgaben und der Führungsautorität nach. Die Atmosphäre ist gekennzeichnet von der Suche nach Übereinstimmungen und Harmonie. Unterschiedliche Fähigkeiten, Kompetenzen und Arbeitsweisen der Mitglieder werden als Bereicherung wahrgenommen. Es ist eine Phase der Integration. Der offene Austausch von Meinungen und Emotionen prägt das Verhalten gegenüber den anstehenden Aufgaben.
Die Gruppe findet zu ihren Arbeitsmethoden und Abläufen auf Basis gemeinsam verabschiedeter Normen und Werte. Das Team wendet sich verstärkt seinen Aufgaben zu. Es entwickelt sich ein „WIR“-Gefühl. Die Arbeitsleistung des Teams entwickelt sich positiv.
Die Entwicklungsstufe Norming gilt dann als abgeschlossen, wenn alle relevanten Gruppenregeln für eine Zusammenarbeit vereinbart wurden und Arbeits- und Herangehensweisen abgestimmt und gelernt sind. Jedes Teammitglied kennt seine Aufgaben. Der Einzelne fühlt sich sicher. Die Gruppe verfügt über eine gemeinsam verabschiedete Methodik, mit der Aufgaben und Probleme angegangen werden. Die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist geschaffen.

Tipps für Praxisinhaber:
Unterstützen Sie den Austausch unter den Gruppenmitgliedern. Geben Sie Raum für Selbstorganisation, bspw. über Flexibilität in den Arbeitszeiten. Eventuell müssen die zur Verfügung stehenden Werkzeuge oder Arbeitsbedingungen angepasst werden, damit Ihr Team wirklich effizient arbeiten kann. Sie koordinieren die Aufgaben und Personen. Achten Sie darauf, dass die Machtverhältnisse und Spielregeln des Teams mit Ihren Vorstellungen übereinstimmen. Fördern Sie Ideenreichtum, legen Sie Wert auf Dokumentation und Sicherung der Ergebnisse.

Phase 3: Performing
In dieser Entwicklungsstufe ist die Teamstruktur optimal entfaltet. Performing ist geprägt von Solidarität und gegenseitigem Respekt. Die einzelnen Teammitglieder agieren flexibel, kooperativ und richten sich ganz auf die gemeinsame Erreichung der Ziele aus. In der Phase Performing pendelt sich die Leistung der Teammitglieder auf einem gleichbleibenden hohen Niveau ein. Das Team handelt geschlossen und orientiert sich an dem gemeinsamen Ziel. Es herrscht eine Atmosphäre der Anerkennung, Akzeptanz und Wertschätzung. Die Rollen der einzelnen Mitglieder können durchaus flexibel zwischen Personen wechseln. Man geht offen miteinander um, kooperiert und hilft sich gegenseitig. Aufgaben werden effizient gelöst. Die Zusammenarbeit setzt neue Synergien frei. Das Team leistet gemeinsam mehr als jeder für sich alleine. Es ist tatsächlich erfolgreich.

Tipps für Praxisinhaber:
Ihr Team braucht jetzt wenig Führung. Es genügt, wenn Sie die globalen Praxisziele vorgeben. Das Team steuert sich größtenteils selbst. Sorgen Sie dafür, dass das Team über gute Rahmenbedingungen verfügt und achten Sie darauf, dass das so bleibt.
 
„Die Uhr läuft“
Tuckmans Modell lässt sich, auch wenn stark vereinfacht und idealtypisch dargestellt, auf jede Art von Gruppe anwenden. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen sind dabei durchaus fließend. Das Tempo kann variieren, sodass manchmal auch vom „Teamtacho“ gesprochen wird.

Die einzelnen Entwicklungsstufen können sowohl in Bezug auf Dauer und Ausprägung als auch Intensität stark variieren. Manchmal läuft die Uhr sogar rückwärts. Wenn sich massive Veränderungen für das Team ergeben, wie bspw. neue Teammitglieder hinzukommen, andere gehen oder sich Anforderungen oder Aufgaben für das Team verändern, dann startet die Uhr erneut.
Die schematische Darstellung Tuckmans Modells mag einen automatischen Verlauf implizieren. Tatsächlich ist sie jedoch das Ergebnis intensiver Arbeit jedes einzelnen Gruppenmitglieds.
In manchen Gruppen werden einzelne Phasen scheinbar übersprungen. Häufig allerdings mit dem Ergebnis, dass die übersprungene Phase später - und dann viel intensiver - nachgeholt wird.
Tatsächlich gibt es viele Teams, die nie die Performingstufe erreichen. Diesen Gruppen gelingt es einfach nicht, sich über die Phase vom Storming oder Norming hinaus zu entwickeln.
Das bedeutet jedoch nicht zwingend, dass diese Teams gar keine Leistung erbringen. Häufig ist der Arbeitseinsatz einzelner sogar sehr hoch. Die Ergebnisse aber bleiben am Ende weit hinter den Möglichkeiten zurück.
Ist die Phase Performing erst einmal erreicht, gelingt es in keinem Team, diese Stufe auf Dauer beizubehalten. Zwangsläufig treten irgendwann Ermüdungserscheinungen auf. Das Wachstum stagniert. Dann ist es Zeit, Veränderungen anzustreben und damit den Prozess erneut zu aktivieren.

Fazit:
Vorgesetzte, in Arztpraxen genauso wie in anderen Unternehmen, sind als wesentliches Mitglied der Gruppe im Teamentwicklungsprozess involviert. Bei ihnen liegt eine hohe Verantwortlichkeit, den Prozess aktiv zu steuern und mitzugestalten. Deshalb gehört Teamentwicklung zu den dauerhaften und ganz zentralen Führungsaufgaben in jedem Unternehmen, egal ob Arztpraxis oder Kanzlei: Ein erfolgreiches Team ist immer und zu jeder Zeit essentieller Erfolgsfaktor.

 

Erschienen in Heilberufe-Beratung direkt digital NR. 9/2014